Erstveröffentlichung:
Europäische Sicherheit und Technik 05/2021
Letzte Aktualisierung:
02.04.2022
Autoren
Uwe Beyer, Thomas Doll
Sowohl auf dem zivilen, als auch auf dem militärischen Sektor schreitet die technologische Entwicklung stetig voran. Bereits jetzt ist erkennbar, dass einige dieser Entwicklungen dazu führen werden, dass Gefechte zukünftig auf unterschiedliche Weisen geführt werden müssen. Wer sich auf diese Veränderungen nicht rechtzeitig einstellt, wird sich in militärischen Konflikten zunehmend schwerer behaupten können. Gleichermaßen muss damit gerechnet werden, dass potentielle Gegner die vorhandenen Defizite bereits frühzeitig erkennen und ausnutzen werden. Neben der Analyse aktueller Entwicklungsstände kommt damit dem rechtzeitigen Erkennen technologischer Trends eine herausgehobene Bedeutung zu. Im Folgenden werden drei Bereiche betrachtet, die das Potential haben, die Operationsführung zukünftiger Landstreitkräfte nachhaltig zu verändern.
Punktgenaue Fernwirkung
Sowohl Reichweite als auch Präzision von indirekt gerichteten Waffensystemen werden in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren eine deutliche Leistungssteigerung erfahren. Die Reichweite von Rohrartilleriesystemen wird auf etwa 100 Kilometer gesteigert werden können. Zudem werden diese Systeme zunehmend intelligente Munition verschießen, die in der Endanflugphase eine automatisierte Zielauswahl und gelenkte Zielbekämpfung durchführen kann. Dies führt dazu, dass Gefechtsfahrzeuge aller Art mit einer sehr hohen Trefferquote, weit außerhalb der Reichweite ihrer eigenen Waffenwirkung, punktgenau zerstört werden können. Der Einsatz KI-gestützter Algorithmen wird dazu beitragen, dass neuere Generationen dieser Munition Ziele noch präziser und treffsicherer bekämpfen können. Erste Varianten dieses Munitionstyps sind in der Bundeswehr bereits seit den frühen 2000er Jahren in Nutzung.
Raketenbasierte Waffensysteme werden zukünftig Ziele, auf Entfernungen von bis zu mehreren hundert Kilometern, punktgenau bekämpfen können. Mit entsprechender Sensorik und Rechenleistung ausgestattet, werden sie zudem in der Lage sein, Ziele aktiv zu suchen. Zielortungsgenauigkeit, Ziel-Priorisierung und Flugverhalten werden in der Endanflugphase mittels KI-basierter Steuerungen nochmals verbessert. Neben beweglichen Zielen wie beispielsweise Kampfpanzer, Panzerhaubitzen oder Raketenwerfer können mit diesen Systemen auch gehärtete stationäre Ziele zuverlässig bekämpft werden. Es ist zu erwarten, dass die Flugkörper sowohl ballistisch als auch im bodennahen Lenkflug eingesetzt werden können. Der bodennahe Anflug wird zu deutlich verkürzten Vorwarnzeiten und zu einer erschwerten Abwehr führen.
Flächendeckende Realzeitaufklärung großer Räume
Die Weiterentwicklung luft- und weltraumgestützter Aufklärungsmittel wird dazu führen, dass eine flächendeckende Aufklärung in Räumen von mehreren hunderttausend Quadratkilometern sichergestellt werden kann. Die Anzahl der eingesetzten Systeme wird deutlich zunehmen, wodurch Abdeckungen von bis zu 95 Prozent des Raumes durchaus plausibel erscheinen. In Kombination mit leistungsfähigen KI-Verfahren wird es damit möglich sein, nahezu alle Fahrzeug-, Bahn- und Luftbewegungen zu erfassen, Fahrzeuge, Key-Leader und Schlüsselgüter zu klassifizieren und eine sehr hohe Anzahl von Zielen in Realzeit gleichzeitig zur verfolgen. Die Aufklärung erfolgt über lange Zeiträume und liefert damit auch dort Ergebnisse, wo eine einfache Bildauswertung heute versagen würde. Es erfolgt eine permanente Zielaufklärung in sehr großen Gebieten. Da die Aufklärung multispektral erfolgt, können Ziele, auch bei schwierigen Umweltbedingungen und bei Nacht, verfolgt werden. Der Einsatz unbemannter luftgestützter Aufklärungssysteme (UAS) wird auch zukünftig die weltraumgestützte Aufklärung sinnvoll ergänzen und zusätzliche Redundanzen schaffen.
Es ist zu erwarten, dass zukünftig, mit Hilfe KI-basierter Softwareagenten zur Überwachung von Netzwerkinfrastrukturen, eine permanente Aufklärung aller relevanten Kommunikationsströme des gesamten Operationsgebietes möglich wird. Dies beinhaltet insbesondere auch die Informationsströme zwischen technischen Einrichtungen, beispielsweise im Bereich kritischer Infrastrukturen der Energieversorgung und des Verkehrs. Hierdurch entsteht ein Lagebild, welches vielfältige Rückschlüsse auf militärisch relevante Faktoren wie beispielsweise Produktion, Transport, Truppenbewegungen oder Engpässe zulässt. Das Lagebild beruht zu großen Teilen auf der Analyse öffentlich zugänglicher Informationen zum Beispiel aus dem Internet, sowie aus Last- und Verbindungsanalysen, die entweder offen zugänglich sind oder weniger gut geschützt werden können.
Internet of Things (IoT) und Führungssysteme
Durch den konsequenten Einsatz von IoT-Technologie wird es zukünftig möglich sein, jede relevante personelle und materielle Komponente des gesamten Fähigkeitsspektrums der Landstreitkräfte in einem Informationsverbund zu koppeln. Entsprechend aufbereitet entsteht so ein flächendeckendes Lagebild der eigenen, als auch der aufklärbaren gegnerischen Kräfte. Der als „Combat Cloud“ bezeichnete Informationsverbund kann automatisch und in Realzeit auf Ausfälle und Angriffe, sowohl im physischen als auch im Cyber- und Informationsraum, reagieren und konfiguriert sich permanent so, dass er in der aktuellen Lage bestmöglich funktioniert. Die permanent einströmende Informationsflut wird von KI-Systemen in Realzeit so verarbeitet, dass sie dem militärischen Führer zu jedem Zeitpunkt, ebenengerecht eine abgewogene Entscheidungsunterstützung anbietet. Der gezielte Einsatz von IoT-Technologie im Zusammenwirken mit einem KI-gestützten Führungsprozess wird im Folgenden als „holistische Führung“ bezeichnet.
Es ist zu erwarten, dass mit holistischer Führung eine maximale Verbundwirkung aller Wirk- und Aufklärungsmittel, aller Waffen- und Truppengattungen, der gesamten eingesetzten Streitkraft über alle Dimensionen hinweg möglich wird. Die KI-gestützte Koordinierung aller Komponenten in der Combat Cloud soll in der Lage sein, jeden erkennbaren Vorteil auszunutzen und klassischen Informations- und Entscheidungsabläufen in vielen Situationen deutlich überlegen sein. Das bewährte und leitende Prinzip der Auftragstaktik wird hierdurch nicht ersetzt, sondern im Sinne einer ebenengerechten und abgewogenen Entscheidungsunterstützung gezielt verbessert und sogar gestärkt. (Siehe hierzu „Der Führungsprozess von Morgen – Wie Künstliche Intelligenz den Führungsprozess beschleunigen kann“)
Die beschriebene Fähigkeit stellt rüstungstechnisch durchaus eine Herausforderung dar und wird nicht ad hoc, z. B. mit Einführung eines neuen Führungssystems, verfügbar sein. Vielmehr ist zu erwarten, dass zunächst nur eine Anfangsbefähigung erreicht wird, die dann nach und nach an Qualität und Funktionalität dazugewinnt. Andere Nationen, allen voran auch Israel[2], sind mit der Entwicklung entsprechender Systeme und Fähigkeiten bereits weiter fortgeschritten.
Mögliche Trends einer zukünftigen Gefechtsführung
Ein neues Zonenkonzept
Die Studie „Gefechtsfeld zukünftiger Landstreitkräfte“ empfiehlt gegebenenfalls über eine „neue Klassifizierung von Räumen und Zonen“ nachzudenken. Der hierzu entwickelte Ansatz lässt den Charakter zukünftiger Gefechte erkennen und unterstreicht die erforderliche Bedeutung dimensionsübergreifender Verbundwirkung (engl.: Multi Domain Operations). Neu ist hier insbesondere die benötigte Fähigkeit der zielgenauen Abstandswirkung auf Entfernungen von mehreren hundert Kilometern, im aufgeführten Schema als Fernbereich bezeichnet. Folgende Zonen werden unterschieden.
- Urbaner Raum
- Nahbereich (bis zu 10 km)
- Fernbereich (mehrere hundert km)
- Strategischer Fernbereich (mehrere tausend km)
- Weltraum
Der Cyber- und Informationsraum ist anteilig in den jeweiligen Zonen enthalten, ohne dass hier Entfernungen eine Bedeutung haben.
Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass die Überlegenheit in einer weiter außenliegenden Zone (z. B. dem strategischen Fernbereich) dazu führt, dass die Siegwahrscheinlichkeit in den inneren Zonen (z. B. dem Nahbereich) steigt, da der Gegner in dieser Zone angegriffen und abgenutzt werden kann, ohne dass er effektive Gegenmaßnahmen ergreifen kann. Es entsteht ein Dominoeffekt, bei dem eine Überlegenheit in einer äußeren Zone dazu führt, dass man auch in allen innenliegenden Zonen nach einiger Zeit siegreich sein wird, obwohl der Gegner hier ursprünglich überlegen war. Die Überlegenheit in einer innenliegenden Zone (z. B. beim Kampf im Nahbereich) nutzt nichts, wenn nicht sichergestellt ist, dass in allen weiter außenliegenden Zonen zumindest Waffengleichheit herrscht.
Durch die neue Fähigkeit der zielgenauen Abstandswirkung entsteht eine mehrere hundert Kilometer Tiefe „Sperrzone“ (engl.: Anti-Access / Area Denial A2/AD-Zone) in der sowohl Boden- als auch Luftsysteme zuverlässig zerstört werden können. Ein Tarnen, Schleichen oder Täuschen in dieser Sperrzone ist, zumindest mit herkömmlichen Verfahren, nicht mehr möglich, da jede Bewegung durch den qualitativ und quantitativ verbesserten Aufklärungsverbund permanent automatisch beobachtet und sicher bewertet werden kann. Die Fernwirkung beider Parteien kann einander nur mit großem Aufwand erreichen und bekämpfen. Keine der betroffenen Parteien kann offensiv agieren, ohne frühzeitig Verluste zu riskieren.
Zwischen den Konfliktparteien entsteht ein „fragiles Gleichgewicht der Kräfte“, welches schlagartig zu Gunsten einer Seite kollabieren kann, sobald eine Partei die Fähigkeit zur flächendeckenden Realzeitaufklärung oder die Kampfkraftgleichheit bei Fernwaffen und Luftabwehr einbüßt. In diesem Fall führt der Dominoeffekt der Zonen dazu, dass die unterlegene Seite die Freiheit des Handelns verliert. Falls eine der Parteien bereits zu Beginn nur über eine unterlegene Fernwirkung oder unzureichende Aufklärung verfügt, kann die andere Partei höchstwahrscheinlich davon ausgehen, mit geringen Verlusten die eigenen Ziele zu erreichen.
Dieses fragile Gleichgewicht der Kräfte legt nahe, dass jede Partei eine maximale Verbundwirkung aller Dimensionen (Land, Luft, See, Weltraum sowie Cyber- und Informationsraum) ausnutzt, um dominant zu werden. Zusätzlich werden beide Seiten versuchen, die Sperrzone des Gegners zu penetrieren bzw. abzunutzen und sie dadurch gleichsam unwirksam zu machen. Die Fähigkeit, über alle Zonen hinweg den Verbund von Führung, Aufklärung, Wirkung und Unterstützung schnell, koordiniert und effektiv zur Wirkung zu bringen, wird auch zukünftig der entscheidende Faktor erfolgreicher Gefechtsführung bleiben.
Es ist nicht davon auszugehen, dass jeder Konflikt notwendigerweise das volle Spektrum der ausgeführten Fähigkeiten erfordert, da die Konfliktparteien diese entweder nicht oder nur teilweise besitzen bzw. einsetzen. Das aktuell verfügbare Fähigkeitsspektrum wird also keineswegs an Bedeutung verlieren. Dessen ungeachtet muss eine moderne Streitkraft in der Lage sein, in allen relevanten Zonen angemessen agieren zu können. Nur so kann die erforderliche Durchsetzungsfähigkeit zum einen und der notwendige Schutz der eigenen Soldaten zum anderen sichergestellt werden. Hinsichtlich des Aufbaus eigener A2/AD-Fähigkeiten zeichnet sich damit ein erster Handlungsbedarf ab.
Erste Ableitungen für Landstreitkräfte der Zukunft
Zukünftige Landstreitkräfte müssen sich mit all ihren Verfahren und Systemen nahtlos in das Gesamtfähigkeitsspektrum der Bundeswehr und aller verbündeten Nationen einfügen. Landstreitkräfte müssen unverändert zum Führen von Joint und Combined Operationen in der Lage sein. Ihre Kompetenz muss damit auch in den Zonen liegen, in denen heute aufgrund mangelnder Fähigkeiten noch Defizite bestehen. Die Studie sieht hier insbesondere den Fernbereich. Dieser erstreckt sich über eine Tiefe von mehreren hundert Kilometern und ist weder mit den Reichweiten noch mit der Zielgenauigkeit der derzeit in Nutzung befindlichen Wirksysteme (z. B. Artillerie) vergleichbar.
Die Fähigkeit einer flächendeckenden Zielaufklärung in Kombination mit der Fähigkeit zur echtzeitnahen Übertragung von Aufklärungsergebnissen sind von entschiedener Bedeutung für die Durchsetzungsfähigkeit zukünftiger Landstreitkräfte. Hierzu sind robuste, dimensionsübergreifende Lösungen erforderlich.
Die Fähigkeit zur KI-gestützten Führung aller Kräfte in allen Zonen ist entscheidend für die Aufrechterhaltung der Sperrzone und damit für die Kampfkraft in entsprechenden Szenarien. Die Datenmenge der Informationen in Echtzeit aus der flächendeckenden hochauflösenden Aufklärung können von Menschen nicht mehr schnell und genau genug ausgewertet werden. Insbesondere hier wird der Einsatz KI-gestützter Analyse und Auswerteverfahren erforderlich sein.
Die Fähigkeit zur Bekämpfung von Punkt- und Flächenzielen in großer Entfernung ist essentiell für die Durchhaltefähigkeit. Hierbei sollte die Reichweite der eigenen Waffensysteme mindestens so groß sein wie die der gegnerischen Systeme, da der Gegner sonst die eigene Fernwirkung zerschlagen kann. Zusätzlich zu weitreichenden Raketenartilleriesystemen müssen Rohr-Artillerie-Systeme und Kampftruppen verfügbar sein, um Kräfte zu bekämpfen, denen ein tiefes Eindringen in eine Sperrzone gelungen ist.
Da der Gegner über ein eingeschränktes Arsenal von Fernwirkung höherer Reichweite verfügen kann, müssen eigene Kräfte gegen vereinzelten, gezielten Beschuss mit Lenkflugkörpern geschützt werden. Zudem muss auch bei massiven Luftangriffen davon ausgegangen werden, dass es dem Gegner gelingen kann, die Sperrzone mit vereinzelten Luftfahrzeugen zu durchstoßen. Zum Schutz vor diesen Bedrohungen sind entsprechende Abwehrsysteme erforderlich.
Auch eine effektive Cyberabwehr ist unerlässlich für die Durchhaltefähigkeit in A2/AD-Szenarien. Der Ausfall von Systemen muss innerhalb von wenigen Minuten durch vorbereitete Resilienzmaßnahmen kompensiert werden können. Die Überlebensfähigkeit von „holistischen Führungsstrukturen“ entsteht durch ein verteiltes Operieren sowie durch eine Combat Cloud, die ein verteiltes Netzwerk von kooperierenden weit vorne liegenden IoT- und Führungskomponenten in den Plattformen aufbaut.
Laufende Arbeiten und Ausblick aus Sicht der Zukunftsentwicklung
Die dargestellten technologischen Entwicklungen lassen erkennen, dass auf die Gefechtsführung zukünftiger Landstreitkräfte zahlreiche Herausforderungen zukommen. Insbesondere im Hinblick auf Auseinandersetzungen mit einem ebenbürtigen oder überlegenen Gegner zeichnen sich Fähigkeitslücken ab. Die Schließung dieser wird erhebliche Anstrengungen und zweifelsohne auch etliche Jahre Zeit kosten.
Eigene Artilleriesysteme sind derzeit in der Lage, mit Rohrwaffen auf eine Entfernung von ca. 30 Kilometer und mit Raketenwaffen auf eine Entfernung von ca. 80 Kilometer zu wirken. Entfernungen von 75 Kilometern mit Rohrwaffen und 300 Kilometern mit Raketenwaffen werden angestrebt. Jedem erkannten Ziel auf dem Gefechtsfeld steht damit ein Wirkmittel gegenüber, das in der Lage ist, dieses auf große Entfernungen zuverlässig zu bekämpfen. Sowohl potentielle Gegner als auch verbündete Nationen verfügen bereits heute über entsprechende Fähigkeiten.
Der Aufbau einer dimensionsübergreifenden, satellitengestützten Zielaufklärung trägt der zunehmenden Bedeutung von zukünftigen A2/AD-Szenarien Rechnung. Aus technologischer Sicht sind in Deutschland alle erforderlichen Ressourcen vorhanden, um eine entsprechende Fähigkeit aufzubauen. Im Sinne einer zukünftig zu stärkenden Rolle europäischer Sicherheit erscheint es durchaus auch denkbar, das Projekt im internationalen Verbund mehrerer europäischer Nationen anzustoßen.