Die intelligente Sensor-Effektor-Kette – Künstliche Intelligenz als Treiber der Automatisierung

Erstveröffentlichung:
Europäische Sicherheit und Technik 06/2022

Letzte Aktualisierung:
06.07.2022

Autoren:
Thomas Doll, Ugur Uysal

Das Gefechtsfeld der Zukunft wird maßgeblich durch weitere Leistungssteigerungen in den Bereichen Reichweite, Präzision und Geschwindigkeit von Waffensystemen geprägt sein. Unbemannte Systeme werden in vielfältiger Form automatisiert aufklären und nach Feuerfreigabe durch den Menschen auch automatisiert wirken können. Gleichzeitig entsteht durch die Vielzahl der eingesetzten Sensoren eine Informationsdichte, die vom Menschen nicht mehr sinnvoll erfasst werden kann. Sensor- und Effektordaten müssen zukünftig automatisiert ausgewertet und zusammengeführt werden. Nur so kann es dem Menschen gelingen, in der gebotenen Geschwindigkeit über den erforderlichen Wirkmitteleinsatz zu entscheiden. Die KI-gestützte Datenanalyse schafft die hierfür notwendigen Voraussetzungen. Im Ergebnis entsteht eine intelligente Sensor-Effektor-Kette.

Intelligente Sensor-Effektor-Kette

Viele Zukunftsszenare gehen davon aus, dass potenzielle Kriegsparteien versuchen werden, die jeweils andere Seite durch den zeitlich koordinierten Einsatz unterschiedlicher Wirkmittel so unter Druck zu setzten, dass diese ihre Ziele nicht weiterverfolgen kann. Der Einsatz punktgenauer Fernwaffen spielt hierbei eine wichtige Rolle. Um im Falle eines solchen Angriffs rechtzeitig wirkungsvolle Gegenmaßnahmen einleiten zu können, muss die Sensor-Effektor-Kette weitgehend automatisiert durchlaufen werden.

Zielaufklärung: Die in der zivilen KI-Entwicklung erreichten Fortschritte zur Objekterkennung in Audio-, Bild- und Videomaterial kann auch im militärischen Bereich sehr effektiv zur Anwendung gebracht werden. Sowohl gegnerische als auch eigene Waffensysteme wie Kampfpanzer, Panzerhaubitzen, Kampfhubschrauber oder Lenkflugkörper können damit in Sekundenbruchteilen automatisiert erkannt und identifiziert werden. Die Aufklärung erfolgt in Echtzeit direkt im Sensor. Anschließend werden nur noch Metadaten übertragen. Die Übertragungsbandbreiten sind schmal.

Sensordatenfusion: Im gemeinsamen Informationsraum, dem Shared Information Space, laufen ununterbrochen Lage- und Zielinformationen der angebundenen Sensoren ein. Die Zusammenführung dieser Informationen zu einem realistischen und echtzeitfähigen Lagebild ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Abhängig von Ort, Zeit und Inhalt der Meldung gilt es, sowohl Dubletten als auch bewusst eingespielte Falschinformation zu erkennen und zu eliminieren. Zieldaten müssen mittels mathematischer Verfahren präzisiert werden. Die Vielzahl aller Lage- und Zielinformationen muss dynamisch zu einem lesbaren Lagebild aggregiert werden.

Zielzuweisung: Sinn und Zweck der Zielzuweisung ist es, im dynamischen Bekämpfungsvorgang dem richtigen Wirkmittel das jeweils richtige Ziel zuzuweisen. Hierbei sind sowohl kinetische als auch nicht-kinetische Wirkmittel zu betrachten. Dies verhindert, dass mit „Kanonen auf Spatzen“ geschossen wird und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Zudem können vorrangig Hochwertziele des Gegners bekämpft werden, ohne eigene hochwertige Wirkmittel zu verschwenden. Kollateralschäden sind, wo immer möglich, zu vermeiden. Aus mathematischer Sicht ist die Zielzuweisung eine Optimierungsaufgabe, zu deren Lösung sowohl klassische Algorithmen als auch KI-Anwendungen eingesetzt werden können.

Wirkmitteleinsatz: Zielaufklärung, Sensordatenfusion und Zielzuweisung können zukünftig komplett automatisiert erfolgen und damit deutlich schneller ablaufen als dies heute der Fall ist. Der Wirkmitteleinsatz aber sollte immer unter der Verfügungsgewalt des Menschen stehen. Dies gilt insbesondere auch für eine intelligente Sensor-Effektor-Kette. Zur Entscheidungsunterstützung stehen das automatisiert generierte Lagebild sowie eine Prognose der Lageentwicklung nach erfolgtem Wirkmitteleinsatz zur Verfügung. Der Mensch als Entscheider kann den Wirkmitteleinsatz freigeben oder umplanen. Letzteres führt zur Neuberechnung und zu einer neuen Prognose, die dann abermals freigegeben oder umgeplant werden kann.

Zielbekämpfung: Nach Freigabe erfolgt die Zielbekämpfung. Hierzu können sowohl klassische als auch intelligente Wirkmittel eingesetzt werden. Letztere verfügen über eigene Sensoren und können mittels integrierter KI-Anwendungen ihr Flugverhalten eigenständig steuern. Im Endanflug können sie auf das vorgegebene Ziel nachjustieren. Ziele können so auch auf große Entfernungen punktgenau bekämpft werden.

Die Zielaufklärung wird wesentlich vom technologischen Fortschritt im Bereich der KI-gestützten Datenanalyse profitieren. Es entstehen intelligente Sensoren. Die automatisierte Sensordatenfusion generiert ein lesbares Lagebild und liefert bereinigte Zieldaten. Die automatisierte Zielzuweisung schafft alle notwendigen Voraussetzungen, um in der gebotenen Geschwindigkeit über den Wirkmitteleinsatz entscheiden zu können. Entscheidungsgrundlage ist eine automatisiert generierte Prognose der Lageentwicklung. Nur der Mensch kann den Wirkmitteleinsatz freigeben. Zur Zielbekämpfung werden zunehmend intelligente Wirkmittel eingesetzt. Auch diese profitieren von der KI-gestützten Datenanalyse.

KI-gestützte Datenanalyse

Die KI-gestützte Datenanalyse hat ab dem Jahr 2012 in mehreren Wellen deutliche Leistungssteigerungen erfahren. Dies trifft insbesondere auf die Sprach-, Bild- und Videoanalyse zu. Qualität, Zuverlässigkeit und Performanz sind mittlerweile so gut, dass einem Einsatz in Realsystemen nichts mehr entgegensteht. Auf dem zivilen Sektor wird dies gerade umgesetzt. Autonome Fahrzeuge müssen in Echtzeit unzählige Objekte eindeutig erkennen und identifizieren können, um das Fahrzeug sicher an sein Ziel zu steuern. Auch wenn die Straßenverkehrszulassungsordnung den Betrieb dieser Systeme noch nicht uneingeschränkt zulässt, verfügbar sind sie schon heute.

Die Abbildung unten zeigt die Fehlerwahrscheinlichkeiten des bis 2017 durchgeführten jährlichen Bilderkennungswettbewerbs „ImageNet Large-Scale Visual Recognition Challenge“. Die im jährlichen Fortschritt erzielten Entwicklungserfolge können hier eindrucksvoll nachvollzogen werden. Ab dem Jahr 2015 erreicht die KI-gestützte Bilderkennung Fehlerraten, die denen des Menschen überlegen sind.

Fehlerraten der KI-gestützten Bildanalyse nach Langlotz et al. 2019

Die auf dem zivilen Sektor eingesetzten Methoden und Verfahren können auch in militärischen Anwendungen eingesetzt werden. Intelligente Sensoren können so eigenständig feindliche Gefechtsfahrzeuge aufklären und zuverlässig identifizieren. Die Auswertung der Sensordaten erfolgt in Echtzeit auf der Recheneinheit des Sensors. Übertragen werden nur noch relevante Zielinformationen. Die eigentlichen Sensordaten verbleiben beim Sensor und können gegebenenfalls nach Rückkehr tiefergehend analysiert werden. Prinzipiell lässt sich das Verfahren auf alle anderen Sensoren anwenden, z.B. akustische, optische, oder infrarote. Auch die Kombination mehrerer Sensorarten ist denkbar.

Intelligente Wirkmittel können mit den gleichen Verfahren im Endanflug das Zielgebiet sondieren und ihrerseits Ziele erkennen und identifizieren. Das Wirkmittel selbst kann so nochmals verifizieren, ob es auf das ihm zugewiesene Ziel ausgerichtet ist. Falls nicht, kann die Flugbahn angepasst und nachjustiert werden. Wirkmittel, die sich in der Endanflugphase nicht eindeutig auf ein identifiziertes Ziel ausrichten, können unscharf geschaltet und Kollateralschäden auf ein Mindestmaß reduziert werden.

Öffentlich zugängliche KI-Modelle sind für militärische Anwendungen nicht hinreichend zuverlässig. Eigenentwicklungen sind zwingend erforderlich. Hierfür sind eine leistungsfähige Entwicklungsumgebung, hinreichend viel Rechenkapazität sowie umfangreiche Trainings- und Testdaten erforderlich. Während die ersten beiden Komponenten leicht beschafft werden können, stellt die Bereitstellung der erforderlichen Trainings- und Testdaten nach wie vor eine große Herausforderung dar.

Für das Training eines KI-Modells zur Erkennung von Gefechtsfahrzeugen beispielsweise sind hunderttausende Bilder erforderlich. Diese sind in den benötigten Umfängen in aller Regel nicht verfügbar. Aktuelle Forschungsergebnisse weisen jedoch darauf hin, dass die Beimischung virtueller Bilddaten die vorhandenen Defizite ausgleichen kann. In einer 3D-Umgebung werden hierzu aus unterschiedlichen Winkeln und Entfernungen, in verschiedenen Geländearten und unter unterschiedlichen Belichtungsverhältnissen fotorealistische Bilder von Gefechtsfahrzeugen erzeugt. Das vorhandene Bildmaterial kann damit leicht um den Faktor tausend bis zehntausend erhöht werden. Ziel des Ansatzes ist es, den Sensor zu befähigen nicht nur einen Kampfpanzer von einem Schützenpanzer zu unterscheiden, sondern zusätzlich zwischen verschiedenen Kampfpanzertypen, wie T72, T80 oder T90, differenzieren zu können.

Mit der aktuell laufenden Studie „Trainingsdatengenerierung für KI-Bilderkennung“ wird dieser Ansatz durch das Amt für Heeresentwicklung in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr, der Universität der Bundeswehr München und der Firma Atos Information Technology GmbH als Auftragnehmer untersucht. Die hier gewonnenen Erkenntnisse können sowohl zur Verbesserung der Aufklärungssensorik als auch zur Befähigung punktgenauer Effektoren großer Reichweite beitragen. Nach Abschluss der Studie werden die Ergebnisse in das ebenfalls im Amt für Heeresentwicklung laufende Forschungs- und Technologievorhaben „Shared Information Space – Tactical Data Management System Land“ überführt. Dieses Vorhaben dient als Basis für alle erforderlichen Untersuchungen, die mit dem Aufbau einer intelligenten Sensor-Effektor-Kette im Zusammenhang stehen.

Potenziale und Handlungsempfehlung

Die im Artikel dargestellten Prinzipien und Ansätze können sowohl auf bemannte als auch auf unbemannte Systeme angewendet werden. Sind die Systeme bewaffnet, verfügen sie über eine eigene Sensor-Effektor-Kette. Sind sie unbewaffnet, fungieren sie selbst als Sensor. Viele unbewaffnete Systeme bilden einen Sensorverbund, viele bewaffnete Systeme einen Wirkverbund, der letztendlich wieder in eine übergeordnete Sensor-Effektor-Kette eingebunden ist. Einsatzwert und Effektivität eines Waffensystems steigen proportional zu seinem Automatisierungsgrad. Sowohl die intelligente Sensor-Effektor-Kette an sich als auch die KI-gestützte Datenanalyse liefern wichtige Impulse für die Entwicklung von konkurrenzfähigen Waffensystemen.

Damit die Bundeswehr zu einer der schlagkräftigsten Armeen Europas wird, führt kein Weg an der Automatisierung ihrer Sensor-Effektor-Kette vorbei. Die zur Verfügung stehende KI-Technologie muss hierbei berücksichtigt werden. Sie liefert das notwendige Potenzial, um hinreichend schnell und präzise agieren zu können. Nur so kann es gelingen, im gegenseitigen Wettstreit um einen schnelleren Führungsprozess, der zunehmenden Dynamik und Komplexität auf dem Gefechtsfeld gerecht zu werden. Am Ende gewinnt unverändert derjenige, der am schnellsten die richtige Entscheidung trifft. KI ist hierfür eine Schlüsseltechnologie. Wer diese zuerst beherrscht, wird überlegen sein.

Unseren Wertevorstellungen entsprechend muss die Entscheidungsgewalt über den Wirkmitteleinsatz immer beim Menschen liegen. Durch die zunehmende Dynamik müssen Entscheidungen zukünftig jedoch häufiger und schneller getroffen werden. Mit hunderten Soldaten besetzte Gefechtsstände sind in ihren Entscheidungen langsam und in ihrer Mobilität eingeschränkt. Für punktgenaue Fernwaffen stellen sie lohnende Ziele dar. In Konsequenz all dieser Überlegungen muss darauf hingearbeitet werden, die Führungsaufgabe zukünftig bei gleichbleibender Qualität mit deutlich weniger Personal bewältigen zu können.

Auch wenn die Bundeswehr KI-Technologie ausschließlich im Sinne des Man in the Loop nutzt, werden andere Streitkräfte diese nach Ihren Vorstellungen auf das Gefechtsfeld bringen. Eine vergleichbare Situation gab es bis vor Kurzem in Deutschland bei der Diskussion um die Bewaffnung ferngesteuerter Drohnen. Um anschlussfähig zu Partnern und konkurrenzfähig zu Gegnern zu bleiben, müssen die Potenziale der KI-Technologie auch in der Bundeswehr zeitnah erschlossen werden.