Die Force-Building Pyramide – Eine universelle Sicht auf die Struktur von Streitkräften

Erstveröffentlichung:
Wehrtechnischer Report 05/2022

Letzte Aktualisierung:
01.04.2022

Autoren:
Uwe Beyer, Thomas Doll

Moderne Streitkräfte sind komplexe Organisationen mit einer großen Anzahl unterschiedlicher (Waffen-) Systeme sowie umfangreichem und spezialisiertem Personal. Ihre Fähigkeiten haben sich in den letzten Dekaden deutlich weiterentwickelt und werden aktuell durch Leistungssteigerungen in den Bereichen Automation, Geschwindigkeit, Präzision und Reichweite von Waffensystemen bestimmt. Konkurrenzfähig ausgestattete und gut ausgebildete Streitkräfte bilden das Fundament einer stabilen äußeren Sicherheit und sind für jede Nation von grundlegender Bedeutung. Den Anstrengungen für Modernisierung und Unterhalt der Streitkräfte liegt eine Force-Building Pyramide (FBP) zugrunde, die für alle Nationen, unabhängig von ihren politischen Systemen, gleich ist.

Force-Building Pyramide

Sinn und Zweck von Streitkräften ist es, die Interessen des Staates, falls nicht anders möglich, auch mit Gewalt durchzusetzen. Sie tragen wesentlich dazu bei, dass die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit sowie die Resilienz eines Staates gegen äußere Bedrohungen gewahrt bleiben. Um dies zu erreichen, müssen unterschiedliche Fähigkeiten aufgebaut und ständig aktuell gehalten werden. Dies umfasst sowohl materielle als auch personelle, und organisatorische Elemente. Die FBP ordnet diese in einer aufeinander aufbauenden Reihenfolge an. Hierbei gelten zwei Gesetzmäßigkeiten. 1. Die jeweils obere Stufe der Pyramide funktioniert nur dann, wenn die Bedingungen aller darunter liegenden Stufen erfüllt sind. 2. Die jeweils untere Stufe ist kostenintensiver als die darüber liegende Stufe.

Stufe 1: Qualitativ und quantitativ konkurrenzfähige materielle Ausstattung

Die unterste Stufe der FBP umfasst die materielle Ausstattung einer Streitkraft. Es muss eine genügende Menge an Material mit hinreichender Qualität vorhanden sein. Die Richtschnur für Menge und Qualität leitet sich aus der materiellen Ausstattung des potenziellen Gegners ab. Die Rüstungsstrategie muss in die Zukunft gerichtet sein und sich von wahrscheinlichen Kriegsbildern ableiten. Neben der unverzichtbaren inkrementellen Weiterentwicklung bestehender Systeme erfordert dies auch die Berücksichtigung disruptiver Ansätze, da diese zu deutlich überlegenen Systemen führen können.

In der Geschichte hat es immer wieder Phasen gegeben, in denen sich die materielle Ausstattung massiv verändert hat, z. B. beim Aufkommen von Militärflugzeugen oder gepanzerten Fahrzeugen. Derart große Veränderungen haben in der Vergangenheit alle vierzig bis fünfzig Jahre stattgefunden und finden zurzeit gerade wieder statt.

Die aktuellen Entwicklungen im Bereich punktgenauer Fernwaffen mit Reichweiten von mehreren hundert Kilometern verändern die Art der Gefechtsführung deutlich, da schwere Kräfte ohne eigenes Risiko bereits in ihrer Aufmarschphase zerschlagen werden können. Die Ära großer Panzerarmeen geht ihrem Ende entgegen. Die Einführung von Drohnen und unbemannten Bodenfahrzeugen führen ebenfalls zu massiven Veränderungen.

Stufe 2: Genügende Stärke an gut ausgebildetem Personal

Die zweite Stufe der FBP umfasst das Personal einer Streitkraft und dessen Ausbildung. Durch die fortschreitende Automatisierung und Verbundwirkung steigt die Effektivität von Waffensystemen permanent; die Kampfkraft pro Soldat nimmt zu. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an Vorbildung und Ausbildung des Personals. Eine zu geringe Personalstärke kann durch den vermehrten Einsatz von Material nicht kompensiert werden. Eine hohe Personalstärke kann selbst bei optimaler Ausbildung ohne adäquate Ausrüstung keine Kampfkraft entfalten.

Die gesellschaftliche Akzeptanz einer Streitkraft ist ein wichtiger Faktor für Qualität und Motivation des Personals. In vielen modernen Gesellschaften ohne Wehrpflicht wird die Rekrutierung von Personal zunehmend zu einem limitierenden Faktor.

Stufe eins und zwei der FBP schaffen die Basis einer Streitkraft. Eine Streitkraft, die nur diese Stufen besitzt, könnte kämpfen, wäre aber nicht besonders schlagkräftig, da ihr eine effektive Steuerung fehlt.

Stufe 3: Führung

Die dritte Stufe der FBP behandelt die Führung einer Streitkraft. Diese kann in verschiedenen Streitkräften sehr unterschiedlich realisiert sein und mit komplett verschiedenen Prozessen umgesetzt werden. Es gibt Streitkräfte, die den Faktor Mensch stark betonen und andere die Führung eher aus technisch/logistischer Sicht betrachten. Wenn die Stufen eins und zwei der FBP nicht erfüllt sind, läuft Führung ins Leere.

Die Führung von Streitkräften unterliegt dynamischen Veränderungen. Die zunehmende Automatisierung und der vermehrte Einsatz von Fernwaffen beschleunigen die Gefechtsführung massiv. Die zur Verfügung stehende Zeit zur Entscheidungsfindung verringert sich erheblich. Militärische Führung muss sich dem anpassen.

Die Führung von Streitkräften in Militärbündnissen ist aus vielerlei Gründen komplizierter als die Führung einer rein nationalen Streitkraft. Die Effektivität eines Bündnisses hängt wesentlich davon ab, wie effektiv die Führung im Bündnis organisiert wird.

Stufe 4: Strategische Ausrichtung

Neben einer guten Führung braucht jede Streitkraft eine strategische Ausrichtung. Diese wird auf der vierten Stufe der FBP behandelt. Kreativität ist hier nochmals wichtiger als dies schon bei Stufe drei der Fall ist. Strategische Gesamtplanungen lassen sich nicht mit schablonenartigen Prozessen und hohem Personaleinsatz erzeugen, sie entstehen aus genialen Einfällen weniger Einzelpersonen. Die Geschichte hat gezeigt, dass dies sowohl im Einsatz z. B. bei der Planung großer Operationen als auch im Grundbetrieb z. B. bei der Rüstungsplanung von entscheidender Bedeutung ist.

Investitionen in Auswahl, Ausbildung und Förderung von Personal der strategischen Ebene ist ein wichtiger Faktor, um für die Kosten der Rüstung einen möglichst hohen gesamtstaatlichen Gegenwert zu erhalten.

Stufe 5: Politik

Unabhängig von der jeweiligen Regierungsform sind Streitkräfte ein Instrument der politischen Ebene. Sie unterliegen der Weisungshoheit der Politik und dienen der Durchsetzung politischer Ziele. Ihr Einsatz erfordert das Mandat der Politik. Das Zusammenspiel zwischen Legislative, Judikative und Executive ist normalerweise in den Verfassungen der Nationen geregelt.

Die Effektivität einer Streitkraft hängt wesentlich davon ab, wie die Stufen eins bis vier der FBP durch die Politik gesteuert werden. Ein starkes politisches Mandat kann Defizite in den darunterliegenden Stufen nicht wettmachen. Souveräne Politik erfordert eine konsequente Rüstung auf den Stufen eins bis vier.

Gesamtstaatlicher Zusammenhang

Die Anstrengungen zum Aufbau und Erhalt eines Staates können ebenfalls in Form einer Pyramide beschrieben werden. Die hier verwendete Systematik ist an die Konzepte der RAND Corporation zum Nation-Building angelehnt. Die Nation-Building Pyramide (NBP) besteht unabhängig von der jeweiligen Regierungsform aus Äußerer Sicherheit, Innerer Sicherheit, Grundversorgung der Bevölkerung und Teilhabe in den Bereichen Wirtschaft, Bildung und Politik. Bei der NBP gilt, ähnlich wie bei der FBP, die Regel, dass höherliegende Stufen nur dann effektiv sind, wenn die darunterliegenden Stufen gut funktionieren.

Nation-Building Pyramide

Die Anstrengungen für Modernisierung und Unterhalt von Streitkräften müssen im gesamtstaatlichen Zusammenhang betrachtet werden. Konkurrenzfähige Streitkräfte sind ein unverzichtbares Instrument der Äußeren und Inneren Sicherheit eines Staates. Der rechtlich zulässige Beitrag zur Inneren Sicherheit kann je nach Verfassung des Staates variieren.

Dem Gedanken der NBP folgend ist eine intakte FBP unverzichtbare Voraussetzung für alle Aktivitäten auf den höheren Ebenen eines Staates, insbesondere dann, wenn diese größere Veränderungen im Inneren und Äußeren zur Folge haben können.

Vor diesem Hintergrund ist eine funktionierende FBP auch zentraler Bestandteil jeder Wirtschafts-, Energie- und Klimapolitik, obwohl hier zunächst ein Konflikt, um finanzielle Ressourcen zu bestehen scheint. Viele Themen sind auf den ersten Blick nur in den Stufen der wirtschaftlichen und politischen Teilhabe sowie der Grundversorgung verortet. Ihre Umsetzung kann aber nicht funktionieren, wenn nicht gleichzeitig die äußere Sicherheit und damit die Souveränität und internationale Wettbewerbsfähigkeit des Staates garantiert ist.

Die Force-Building Pyramide ist nur eines von vielen Modellen, um bestehende Abhängigkeiten innerhalb von Streitkräften zu beschreiben. Trotzdem kann diese Systematik dabei helfen eine strukturiertes Verständnis der Zusammenhänge zu entwickeln. Die FBP gilt auch für alle historischen Streitkräfte, selbst wenn deren Existenz bereits tausende von Jahren zurückliegt. Es scheint plausibel, dass sie auch für alle zukünftigen Streitkräfte zutreffen wird. Die FPB kann als Naturgesetz von Rüstung verstanden werden.